Pilgern ? – Warum und wozu ?
Warum in unseren Tagen einen Pilgerweg gehen ? – Wandern okay, aber pilgern ?
Ist das nicht etwas für Mönche, Geistliche, für Menschen die sich auf der religiösen Suche Gott annähern wollen? – Wie kommt ein moderner, aufgeklärter Mensch dazu, pilgern zu wollen ?
Das muss natürlich jede und jeder für sich selbst beantworten. Zu meinen persönlichen Gründen komme ich etwas später. Ich möchte erst ein wenig weiter ausholen und auf verschiedene Fragestellungen und Dinge eingehen, die sich rund um so eine Pilgerreise stellen.
Auch heute machen sich (wieder) viele Menschen auf diesen Weg, den Jakobsweg. Wenn nicht (wie im Mittelalter) zuvorderst wegen der in Aussicht stehenden Sündenvergebung oder aus anderen religiösen Gründen, so doch zumindest aus spirituellen Gründen.
Oft entscheiden sich Menschen auch in Lebenskrisen, zwischen zwei Lebensabschnitten, auf der Sinnsuche, oder auch der Suche nach sich selbst. Und vielleicht ist Letzteres eines der Hauptmotive in unseren modernen, getriebenen Zeiten, in denen es schnell passieren kann, dass man sich selbst verliert.
Es gibt natürlich auch Menschen, die den Pilgerweg als sportliche Herausforderung begreifen und ihn mit entsprechendem Ehrgeiz so schnell als möglich wandern, joggen oder auch radeln wollen. Und es gibt solche, die sich den gesamten Weg in 14-Tage-Abschnitte einteilen und ihn dann über Jahre hinweg in solchen Urlaubs-Abschnitten gehen, da sie die notwendige Zeit nicht am Stück frei nehmen können. Das birgt aus meiner Sicht einen Nachteil, auf den ich später im Lauf meines Berichtes noch eingehen werde. Für viele ist es aber eben die einzige Möglichkeit.
Im Gegensatz zu Rundwanderwegen oder gewöhnlichen Wanderungen in schöner Landschaft, zeichnen sich Pilgerwege meist dadurch aus, dass eine recht lange Strecke mit unterschiedlichsten Qualitäten auf ein meist religiöses Ziel hinführt. Eine Kathedrale, ein heiliger Ort, der durch irgendeine Begebenheit zu einem solchen Ort und somit zum „geheiligten“ Anziehungspunkt wurde.
Diese Wege haben Geschichte und Tradition, und Pilger treten in gewisser Weise in die Fußstapfen ihrer Vorgänger. Das verbindet den einzelnen Pilger in gewisser Weise mit dieser Pilgergemeinschaft, egal ob man nun selbst religiös und gläubig ist, oder nicht. Letztlich suchen Menschen immer auch Zugehörigkeit und Gemeinschaft, selbst Einzelgänger.
Einen grundlegenden Unterschied sehe ich allerdings zwischen der Pilgerreise im Mittelalter (der Jakobsweg wurde etwa im 11. Jahrhundert populär) und der Pilgerreise heute. Der Pilger im Mittelalter trat den Weg sozusagen vor seiner Haustür an (so er eine hatte), reiste den langen und beschwerlichen Weg bis nach Santiago de Compostela, wo er nach einem Bad und von den Mönchen mit neuen Kleidern (Gewändern) versehen, die Speisung beim Pilgermahl in der Kathedrale einnahm. Dann galt der Pilger, der Sünder, als geläutert. Und als Geläuterter machte er sich (nach einer Zeit der Erholung von den Strapazen) wieder auf den Rückweg in seine Heimat. Das bedeutet, er begegnete auf dem Rückweg den Menschen, die sich auf dem Hinweg befanden und umgekehrt. Man kann sich gut vorstellen, wie im Mittelalter die sich begegnenden Menschen einander mit Informationen, Nachrichten, Fragen, und natürlich mit Motivation und Hoffnung versorgten.
Der Hoffnung auf „Heilung“ – „Vergebung“ – „Läuterung“ – oder gar „Erleuchtung“
Manche wanderten auch von Santiago de Compostela noch weitere 90 km bis ans Kap Finisterre (Cabo Fisterra), dem (westlichen) Ende der damals bekannten Welt, verbrannten dort ihre alten Kleider und ließen so symbolisch ihr altes Leben hinter sich, um als neue Menschen in ein neues Leben zurück zu kehren.
Heute geht der Strom der Pilgernden vor allem in eine Richtung: Hinwärts, westwärts, nach Santiago de Compostela. Nur sehr wenige kommen entgegen und könnten berichten, wie es ihnen erging. Wer heute in Santiago de Compostela ankommt, der holt sich seine Compostela (Pilger-Urkunde) im Pilgerbüro an der Kathedrale ab und tritt die Rückreise bequem per Bus, Zug oder gar Flugzeug an.
Das ist eigentlich one-way-pilgern, irgendwie nur eine halbe Sache. Da ging wohl etwas verloren auf dem Weg vom Mittelalter bis heute.
Der Pilger im Mittelalter war im Vergleich zu heutigen Pilgern aber auch wirklich lumpig ausgestattet und diese Reisen waren sowohl beschwerlich als auch gefährlich. Keine Sport- oder Wanderschuhe, keine leichte, schnell trocknende, Schweiß absorbierenden Funktionskleidung, kein Mikrofaserhandtuch. Keine Blasenpflaster und Fußpflegesalben. Es gab Hospitäler, meist bei Klöstern, in denen der geschundene Pilgerkörper bis zu drei Tage genesen durfte, bis er wieder reisefähig war. Länger nicht.
Fitness, Training, Rucksack
Fragen, die sich unweigerlich stellen, sind:
„schaffe ich das ?“ – „bin ich fit genug ?“ – „halte ich das aus ?“
Tägliches Training wie bei Leistungssportlern oder Alpinisten ist meines Erachtens nicht nötig, schadet aber natürlich auch nicht. Eine gewisse Grundfitness, sowie Kondition und Ausdauer sind aber schon empfehlenswert – wobei diese auf dem Weg auch nach und nach wachsen.
Es ist nicht gut, ausgerechnet bei dieser Unternehmung zum ersten Mal im Leben Wanderschuhe anzuziehen oder einen schweren Rucksack zu tragen. Die Schuhe sollten bereits am Fuß eingelaufen sein und wie ein Rucksack sinnvoll zu packen ist kann ebenfalls vorher geübt werden. Das gilt auch für das Tragen auf den Schultern über einen ganzen Tag. Mein Rucksack war wohl etwa 18 kg schwer, das geht aber auch leichter.
Und: Es gibt heute vor Ort auch buchbare Rucksack-Shuttle-Services !
Sich die wichtige Frage „Was brauche ich wirklich ?“ gleich beim Packen zu stellen, stimmt vielleicht schon ein wenig auf das Kommende ein, denn diese Frage kehrt immer wieder. 😉
Ich hatte beim Start einen Pilgerstab (aus dem heimischen Wald) an der Hand, die Wanderschuhe an den Füßen, einen Satz Kleidung am Leib und einen weiteren ganz unten im Rucksack für die Heimreise. Dazwischen hatte ich zwei T-Shirts, zwei Paar Wandersocken, zwei Unterhosen, eine Wanderhose, ein paar leichte Turnschuhe. Dazu Schlafsack, eine Unterlage (falls ich mal draußen schlafen muss), Reise-Waschzeug (für Mensch und Klamotten), ein Handtuch, Wörterbuch, Reiseführer, Kamera, Schreibzeug, Taschenmesser, Erste-Hilfe-Set, eine Trinkflasche und was sonst so für Wanderungen sinnvoll erscheint.
Und warum ich ?
Was hat nun MICH dazu bewogen, zum pilgern auf den spanischen Jakobsweg zu gehen ?
Wochenlang jeden Morgen aufzustehen und den ganzen Tag über einen Fuß vor den anderen zu setzen um abends erschöpft in irgendein Herbergsbett zu fallen ?
Mein Lebens- und besonders mein Arbeitsalltag, spätestens in den Jahren 2006 und 2007, belasteten und erschöpften mich zunehmend. Das war ein schleichender Prozess und jeder Mensch der diese Erfahrung auch gemacht hat wird mir vermutlich zustimmen, dass man das erst einmal selbst verdrängt. Man schiebt es weg, denkt dass es vorüber geht, dass es nur eine Phase ist. Man nimmt Urlaub und denkt, danach ist alles wieder gut. Ist es aber nicht.
Ich wurde dünnhäutiger, leichter reizbar, reagierte bei der Arbeit und auch zuhause in der Familie zunehmend patziger und unfreundlich, wenn jemand etwas von mir wollte. Wenn das Telefon klingelte nahm ich den Hörer ab und fragte „Wer stört?“ statt mich freundlich mit Namen zu melden. Ich war schnell genervt und hatte an nichts mehr Freude. Ich war zutiefst unzufrieden, fühlte mich durch die Lebensumstände eingeengt und in meinem Hamsterrad des funktionieren Müssens (und Sollens) gefangen, aus dem ich nicht entrinnen konnte.
Kurz: Ich steuerte wohl auf das zu, was man einen „Burn-out“ nennt.
Vorbilder und Vorbereitung
Ich hatte im April 2007 das Buch „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling gelesen, in dem er seine Reise auf dem Jakobsweg (aus ähnlichen, aber drastischeren Gründen) schilderte.
Und ich hatte bei der Lektüre das ganz starke Gefühl, ja geradezu den Wunsch:
Genau das sollte ich auch machen !
Ende September 2007 verfügte ich über ein volles Überstundenkonto, hatte aber keine Zeit etwas davon abzufeiern. Und ich hatte noch immer alle 30 Urlaubstage für dieses Jahr zur Verfügung.
Da kam mein Chef zu mir ins Büro und fragte, wann ich gedenke meinen Urlaub zu nehmen. Und ich erwiderte brüsk, dass ich ja wohl nicht Urlaub nehmen könne, solange er mir unentwegt stapelweise neue Arbeit auf den Tisch wirft.
Seine Reaktion war überraschend – und im Personalverantwortlichen Sinne – vorbildlich !
Er forderte mich auf meinen Urlaub zu nehmen. – Jetzt. – Sofort.
Ich war verblüfft, aber ich ließ mir das nicht zweimal sagen. Und ich bin ihm bis heute dankbar.
Zwischen der Lektüre des Buches und dem Gespräch mit meinem Chef lagen fünf Monate. Ich hatte mich inzwischen gelegentlich mit der Umsetzung der Idee beschäftigt und zum 44. Geburtstag im Juni bekam ich einen passenden Reiseführer geschenkt. Auch die Möglichkeiten und Kosten der Hin- und Rückreise hatte ich eruiert. Selbst Astrid, damals meine Partnerin und Mutter unserer Kinder, bestärkte mich darin.
Jetzt musste ich es nur noch wahr werden lassen.
So nehme ich also vom 2. bis 26. Oktober 2007 Urlaub und kaufe mir am Schalter der Deutsche Touring GmbH (heute zu FlixBus gehörig) am Stuttgarter Hauptbahnhof ein Busticket für die Hinfahrt nach San Sebastian im Baskenland im Norden Spaniens, sowie eines für die spätere Rückfahrt von Santiago de Compostela nach Stuttgart.
Am Montag dem 1. Oktober 2007 gehe ich noch ein letztes Mal ins Büro, um einige wirklich dringende und termingebundene Arbeiten zu erledigen. – Dann bin auch ich erst mal weg. 🙂
Die Jakobsmuschel und der gelbe Pfeil (Flecha Amarilla) werden mir den Weg weisen.
Ich werde rund 26 Tage unterwegs sein, die sich etwa wie folgt aufteilen werden:
- 1 Tage Anreise mit dem Bus nach San Sebastian (Baskenland, Nordspanien)
- 24 Tage pilgern auf dem Jakobsweg, von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela
- 1,5 Tage Rückfahrt mit dem Bus von Santiago de Compostela nach Stuttgart

