04.10.2007 (Donnerstag)
Es gießt heftig als ich aufwache. Mein französischer Bettnachbar Philipp ist schon weg. Ich hab’s allerdings nicht eilig. Ich gehe runter und frühstücke erst einmal. Nach dem Frühstück ist auch der Regen vorbei und die Sonne betritt die Bühne. Vom Balkon aus begrüße ich den jetzt sonnigen Morgen.

Dann packe ich meine Sachen zusammen und breche gegen 9 Uhr auf. – Jetzt geht’s richtig los!
Das bin ich (Peter), so sehen mich ab jetzt die Menschen auf dem spanischen Jakobsweg, dem Camino Santiago (auch Camino Francés). Das T-Shirt mit dem Aufdruck “Keep On Running.” ist das Shirt für die ebene Strecke und ein Geschenk einiger sehr guter Freunde. Eines meiner zwei T-Shirts. Ich trug es etwa die Hälfte aller Tage. Das “Don’t loose that feeling !” Shirt schenkte mir mein bergbegeisterter Vater und ich trug es meist, wenn es in die Berge ging. Also etwa die andere Hälfte der Zeit.
Die Sonne kriecht über die Berge und trocknet mit ihren wärmenden Strahlen die nasse Welt. Die Wolken heben sich aus den Tälern empor und verflüchtigen sich allmählich. Ein wundervoll majestätisches Panorama bietet sich mir, als ich die Häuser der Herberge Fermé Ithurburia hinter mir lasse und schon nach wenigen Metern Aufstieg über sie hinwegblicken kann.

Nach etwa einer halben Stunde komme ich an der gestern (im letzten Artikel) erwähnten Herberge und Schutzhütte Orrison vorbei. Sie liegt wirklich in einmalig schöner Lage mit toller Aussicht, wenn das Wetter danach ist. Sie ist offenbar auch fast immer gut ausgebucht.

Das Wetter wird jetzt immer besser, es geht ein leichter Wind. Es ist Anfang Oktober, dennoch kann ich mich gut im T-Shirt und in kurzen Hosen auf den Weg machen. Etwa acht Pilger gehen hinter mir, eine kleine Frau überholt mich und wir wechseln wir ein paar Worte. Sie ist Portugiesin und läuft so zügig, wie man sich vielleicht eine Andenläuferin aus Peru vorstellt. Also ziemlich flott.
Der Weg folgt weitgehend dem Verlauf einer schmalen asphaltierten Straße (D428), die meist moderat ansteigt und sich dabei von Kurve zu Kurve zieht. Vor jeder Kurve wächst die Spannung, wie es danach weitergeht und ob man vielleicht bald oben auf dem Pass ist. Nach jeder Kurve ist dann gewiss, dass es noch nicht so weit ist und der Weg weiter ansteigt bis zur nächsten Kurve. Und das Spiel beginnt von vorn.
Der Boden neben der Straße ist stellenweise sehr matschig, es scheint viel geregnet zu haben in letzter Zeit. Auf etwa 900 m Höhe steht in einiger Entfernung links vom Weg eine einsame Marien-Statue auf einem Felsrücken inmitten der Weidelandschaft der Schafe. Es handelt sich um die Virgen de Biakorri, die Schutzpatronin der Pastoren und Pilger.
Es wird Mittag und ich überschreite die magische Marke von 1000 m Höhe über dem Meer. Plötzlich zieht ein riesiger Vogel nur knapp vor mir über die Straße hinweg und lässt mich aufschrecken. Ich sehe ihm nach, wie er (Adler oder Geier?) in der Ferne verschwindet. Kurze Zeit später, als ich den Pass erreiche, ziehen drei weitere dieser Vögel ihre Kreise am Himmel, die Thermik nutzend. Es scheinen Geier zu sein.
An einem eingezäunten Kreuz neben dem Weg haben Pilger bunte Stofffetzen, Stofftiere und allerlei andere Gegenstände abgelegt. An dieser Stelle verlässt der Jakobsweg das Asphaltband und führt in Form eines Pfades über einen Hang, an dessen nach Norden gewandter Seite sich eine kleine steinerne Biwak-Hütte (Schutzhütte) an ein paar Felsen schmiegt. Bei widrigem Wetter wird sie sicher gerne genutzt. Für mich aber scheint die Sonne wie es schöner kaum sein könnte.
Auf dem Höhenzug angekommen mache ich Pause, während ich den fantastischen Blick hinunter nach Spanien, nach dem geschichtsträchtigen Ort Roncesvalles genieße. Hier kamen schon die Truppen Karls des Großen vorbei, allerdings holten sie sich in der Schlacht von Roncesvalles am 15. August 778 eine blutige Nase, was dann später im sogenannten Rolandslied besungen wurde.
Ich dagegen habe wirklich sehr, sehr großes Wetterglück heute ! 😊
Ich bemerke, dass ich erst die Wochentage zu „vergessen“ begonnen habe, und jetzt die Uhrzeit. Ich trage keine Uhr und das ist auch nicht nötig. Es ist unwichtig welcher Tag heute ist, wie spät es genau ist und es ist eine Wohltat sich so frei von allen Zeitzwängen zu fühlen. Es herrscht Stille – nicht nur um mich, auch in mir.
Zwar ergeben sich immer wieder Begegnungen mit anderen Pilgern, aber die meiste Zeit wandere ich bewusst allein. Ich treffe auch Deutsche aus der Heimat, z.B. aus dem schwäbischen Metzingen oder dem badischen Karlsruhe (mit Fahrrad). Aber das sind kurze, flüchtige Momente.
Auf dem Pass auf etwa 1350 m Höhe nehme ich ein kleines Mittagsmahl aus Brot, Käse und Oliven zu mir. Kurz vorher habe ich einen der Kilometer-Steine passiert, der die Entfernung bis nach Santiago de Compostela angibt. – Es sind noch 765 Kilometer.
Für den anschließenden Abstieg wähle ich den (kürzeren) Weg durch den Wald, statt über den Ibañeta-Pass. Beide Wege führen auf der spanischen Pyrenäen-Seite ins Tal und nach Roncesvalles hinab.
Rechts und links des Weges liegen immer wieder Schuhe und Reste von Kleidung im Wald. Ich frage mich, was Menschen dazu veranlasst haben mag, Teile ihrer Ausrüstung einfach hier in der Natur zu entsorgen. Selbst wenn die Sachen kaputt sein sollten, kann man sie doch mitnehmen bis zum nächsten Ort bzw. Mülleimer. Da habe ich wirklich kein Verständnis für.
Ich stelle erstaunt fest, dass ich meine Brille nicht zu tragen brauche. Ich bin eigentlich kurzsichtig und trage daher normalerweise eine Brille, um Dinge die weiter weg sind deutlicher zu erkennen. Hier, in der Weite der Landschaft, wo meine Augen nicht dauernd die kurze Blick-Distanz zum Schreibtisch oder einem Computer-Bildschirm haben, also auch keine Hindernisse im Blick sind, komme ich gut ohne Brille klar. Die Augen gewöhnen sich an mehr Fern-Distanz und ich sehe klar und deutlich. Diesen Eindruck hatte ich auch schon gestern, als ich wegen des Regens die Brille abnahm. Das gefällt mir. 🙂
Auch fühle ich mich ohne Hut oder Mütze wohler. So nach oben offen, ohne Nasenfahrrad vor den Augen und ohne Deckel auf dem Schädel, da schwindet die Trennlinie zwischen mir und der Umgebung, dieser wundervollen Berglandschaft der Pyrenäen. Ich fühle mich als ein integrierter Teil davon.
Als ich in Roncesvalles ankomme setze ich mich bei der erstbesten Bar hin und trinke einen Café con leche in den nachmittäglichen Sonnenstrahlen. Und dann noch einen. Währenddessen kommen weitere Pilger in den Ort und grüßen im Vorbeigehen mit dem obligatorischen Pilgergruß „Buen Camino“.
Ich habe mein erstes Ziel auf dem Weg gemeistert das darin bestand, die Pyrenäen zu überschreiten. 🙂
Und vor allem: Meine Füße haben die Strapazen des Tages ohne Blasenbildung überstanden ! – Ich kann morgen getrost wieder in die Wanderstiefel steigen.

Meine Gedanken kreisen jetzt um die Eindrücke des Tages, die Menschen die mir begegnet sind und mit denen ich ein paar Worte wechselte. Ich denke kaum an zuhause. Noch weniger an die Arbeit.
Tatsächlich bin ich schon erschrocken und erstaunt darüber, dass es mich überhaupt nicht interessiert, wie es zuhause oder in der Firma läuft. Das sagt mir aber auch, dass ich da gerade erstaunlich empfindungslos bin. Geradezu gleichgültig. Und das wiederum bestätigt mich in meinem Entschluss, mich auf diese Reise begeben zu haben. Es muss sich etwas ändern. Bessern.
Eine (aussergewöhnlich hübsche) Frau kommt empört vorbei und beschwert sich darüber, dass die alte Pilgerkapelle Eintritt kostet. Sie muss ihren Unmut offenbar mit irgend jemandem teilen. Im Gegensatz zu ihr will und kann ich mich darüber aber nicht aufregen.
Später komme ich vor der Bar mit einer Schweizerin und einer Russin aus Deutschland in Kontakt und es ergibt sich eine kurze nette Konversation. Wir verabreden uns für später zum gemeinsamen Abendessen.
Um 17:30 Uhr begebe ich mich zum Pilgerbüro beim Kloster, um dort in die Herberge einzuchecken. Ich bin sehr gespannt wie das sein wird. Die gestrige kleine Herberge in Huntto war ja privat geführt und daher eher familiär wie eine Frühstückspension oder ein Bed & Breakfast. Natürlich war das mit 35 Euro (damals – 2007 – inklusive Pilgermenü und Frühstück) auch etwas teurer, als etwa kommunale oder kirchliche Herbergen.
Hier in Roncesvalles handelt es sich jedoch um eine in einem Kloster Kollegium untergebrachte kirchliche Herberge mit gut 100 Betten (50 Etagenbetten) in einem Saal wie ein Kirchenschiff, dessen Fenster alle mit hölzernen Läden von innen verdunkelt sind. Es gibt deshalb im Inneren nur schummriges elektrisches Licht. Die Schuhe müssen gleich hinter dem Eingang ausgezogen und in dafür vorgesehene, nummerierte Regale gestellt werden. So soll verhindert werden, dass Schmutz im Schlafsaal verteilt wird. Ausserdem soll damit wohl auch die „Luftqualität“ für die Schlafenden im zumutbaren Bereich gehalten werden. 😉
Dafür liegen die Kosten entsprechend niedriger, bei rund 8 Euro. Und es gibt auch kein Frühstück. (*)
(*) Ich beschreibe hier natürlich den Zustand wie ich ihn im Oktober 2007 vorgefunden habe.
Inzwischen (ab 2011) haben sich sowohl Komfort, als auch Leistungen und Preise verändert.
Das wird sicher eine ungewohnte Nachterfahrung. Es ist aber alles in allem sehr sauber und da ich einer der Ersten bin die jetzt einziehen, gehe ich gleich duschen ehe später großer Andrang herrscht. Es gibt nämlich im Waschraum im Untergeschoss nur zwei Duschen je Geschlecht.
Zusammen mit den beiden zuvor an der Bar kennengelernten Pilgerinnen und einem Norweger nehme ich später ein reichhaltiges „Menu del Peregrino“ (Pilgermenü) zu mir und besuche anschließend die Messe. Die beiden Frauen sind später verschwunden, aber mit dem Norweger sitze ich noch längere Zeit draußen beim Wein, bis es anfängt zu regnen.
Um 22 Uhr wird die Herberge geschlossen, das heißt man muss vorher drin sein. Wer später kommt hat Pech. Ich liege noch eine Weile wach und nehme die Stimmung in mir auf. Dies rascheln und Flüstern in diesem riesigen dunklen Kirchenschiff-Raum, in dem statt Bänken jetzt Betten stehen, die nun etwa zur Hälfte oder etwas weniger belegt sind. Leises Schnarchen aus den verschiedensten Richtungen stellt sich nach und nach ein. Ich werde wohl, wenn ich eingeschlafen sein werde, mit einstimmen in den Sägechor. Ich hoffe aber inständig, nicht der Schlimmste zu sein … ich selbst merke davon ja nichts und kann das auch nicht steuern. – Außer vielleicht, indem ich weniger Wein trinke vor dem Schlafengehen. 😉
Verlauf der heute gepilgerten Strecke – (raw Map by OpenStreetMap.org)
Heute gepilgerte Strecke: 21 km – (insgesamt 26 km gepilgert)
